„Wenn Steine reden könnten…“, denke ich, auf das rote Mauerstück blickend, das auf meinem Schreibtisch liegt. Besonders im November. Für mich ist er ein Steinmonat. Das meine ich nicht esoterisch, sondern historisch. Nehmen wir den 9. November. 1918 würden die Steine des Reichtages von der neuen deutschen Republik erzählen.
20 Jahre später müssten angesichts der Pogrome eigentlich alle Steine lauthals klagen. Schaufenster wurden mit ihnen eingeschmissen und Synagogenmauern in Brand gesteckt. Menschen wurden an Wände gestellt und ermordet. Sie müssten aufschreien, sagen wir heute, aber viele waren schweigsam. Wussten nicht so recht, blieben stattdessen bleischwer liegen. Wie über dieses Gräuel reden? Es musste gelernt werden und ist bis heute eine Aufgabe.
Vor 35 Jahren dann, nach so viel Protest und der jahrelangen Sehnsucht nach Freiheit, war diese plötzlich unverzüglich da. Am 9. November bröckelte die Mauer. Ein paar Wochen später kamen Freunde zu Besuch – solange ich denken konnte, waren wir „rüber gefahren.“ Sie brachten mir einen roten Stein mit. Herausgeschlagen aus der Mauer.
Es kann sein, dass alles zufällig an einem 9. November geschah. Dennoch: wenn Steine reden könnten… Wieso „wenn“? Sie tun es doch. Das Mauerstück in der Hand erinnert mich an den 1. Petrusbrief, der uns als „lebendige Steine“ anspricht. Als Menschen, die etwas verändern können. Die erinnern und mahnen können, damit Geschichte sich nicht wiederholt. Wir, als lebendige Steine, können NEIN zum Antisemitismus und JA zur Demokratie sagen, mag es auch unbequem sein. Das Mauerstück auf meinem Schreibtisch ist mein Stolperstein. Eine Herausforderung – für das Leben aller.
Pfarrerin Vanessa Kluge, Ehrang