Morgen ist Karfreitag. Karfreitag ist aber nicht nur vor Ostersonntag. Karfreitag ist auch an einem Mittwochabend, als ein Mensch stirbt einfach so. Oder an einem Donnerstag im Juli, als ein Fluß zum reißenden Schlammstrom wird, der sich durch den Ort frisst. Oder am kühlen Februarmorgen, als erste Bomben detonieren. Karfreitag ist manchmal mitten im Alltag, da wo Leben mit aller Wucht in tausend Stücke bricht. Darüber nachdenkend räume ich die schlammigen Flutweinflaschen weg, die ich letztes Jahr solidarisch gekauft hatte. Sie erinnern mich an zerbrochenes Leben, an diese Karfreitagsmomente. An die Hände Sterbender, die schwächer werden, aber in meinem Herzen da sind. An die Bilder von all dem verschlamm-ten Leben und so vielen Erinnerungen, die weggeworfen werden mussten. An die Flüchtenden, mit dem Leben davon gekommen, sind sie hier in Sicherheit und bangen um die Ihren Daheim. Ich stelle die letzte Flasche weg. Unter dem Schlamm schimmert auf dem Etikett hindurch: „Auf das Leben!“ Auf das Leben? Ich schlucke. Das beißt sich! Auf das Leben? Das zerbrochenen Leben? Das Leben mit seinen Karfreitagsmomenten? Puh. Ich lese die Karfreitagsgeschich-ten in der Bibel und die Texte der alten Passionslieder. Langsam schiebt sich ein anderer Gedanke hinzu: mit all den Karfreitagserfahrungen bin ich nicht allein. Nicht heute und nicht im Alltag. Ich erkenne Gott, der nicht die Augen verschließt vor Todesangst und Schlammlawinen und Flucht und Krieg. Ich sehe Gott, der mit mir leidet, klagt, weint. So stelle ich die Flasche ins Weinregal und denke „Gott, die trinke ich erst, wenn ich sagen kann: auf das Leben mit seinen Karfreitagen, die auch mitten im Alltag sind.“ Heute aber noch nicht.