„Manchmal dirigiert auch jemand mit“

Sabine Paganetti veranstaltet Demenzkonzerte. Drei große Aufführungen hat sie bereits in Neuwied auf die Bühne gebracht. Der Unterschied zu anderen Konzerten? Das Publikum – Menschen mit Demenz, Pflegende und Angehörige. Und die Atmosphäre: „Wir sind vorbereitet, wenn zum Beispiel jemand mitdirigiert, wenn jemand laut spricht oder rausgehen muss“, sagt die Kantorin der Evangelischen Kirchengemeinde Feldkirchen-Altwied. Dann gibt es vielleicht eine kurze Pause. „Es kommt auch vor, dass jemand einen Mitwirkenden berührt oder drückt“, sagt sie. Man weiß es nie.

Bei einer Aufführung der Deutschen Messe von Franz Schubert sangen demente Zuhörerinnen und Zuhörer sogar mit.  Menschen mit Demenz sprechen auf Musik an wie auf fast nichts sonst, weiß Paganetti. Musik können sie sogar noch lernen, sagen Therapeuten. Auch bei den Leuten, die sie begleiten, lösen die Klänge etwas aus. Zum Beispiel bei den Pflegekräften: „Einige sagten, solche Musik hätten sie noch nie erlebt und noch nie gehört, und sie im Radio ertönt wäre, hätten sie wahrscheinlich abgeschaltet.“ Wenn die Konzertbesucher wieder zu Hause sind, die einen wie die anderen, „klingt der Tag anders aus“.

Am Lebensende feiern, was wichtig war

Die Idee zu den Konzerten ist lange in ihr gereift. Vielleicht haben schon ihre Jugendjahre sie darauf vorbereitet. Sabine Paganetti hat als Schülerin ihre Mutter mitgepflegt. Die Mutter wünschte sich, die letzte Zeit zu Hause zu verbringen und starb ein halbes Jahr vor dem Abitur der Tochter. „Mit ihr hatten wir eine intensive Familienzeit“, sagt Paganetti über den Abschied der Mutter. Seitdem bewegt sie der Gedanke, Menschen am Ende ihres Lebens Freude zu bereiten und mit ihnen zu feiern, was ihnen zeitlebens wichtig war. „Wir müssen das Sterben und den Weg dahin wieder ins Leben holen“, sagt sie.

„Ich wollte die Musik noch besser nutzen, auch therapeutisch“

1986 kam Paganetti als Kirchenmusikerin ins kleine rheinland-pfälzische Dorf Altwied. Ende der 90er-Jahre erlebte sie dort, wie das geordnete Leben der Chorkassiererin unter einer beginnenden Demenz durcheinandergeriet. Paganetti wollte dann die Musik besser nutzen, um Menschen wie ihr zu helfen, auch therapeutisch. Sie begann zu lesen. 2005 bot sie erstmals Musiktherapie in einer Palliativstation an. 2012 belegte sie auf einem Kirchenmusikkongress Vorträge über Demenz und Therapie. Und sie bildete sich weiter zur Musik- und Kulturgeragogin, beschäftigte sich also mit Lernkonzepten für alternde Menschen.

Es gab viel Unterstützung

Eine Fusion ihrer Gemeinde mit der Nachbargemeinde erweiterte ihre Möglichkeiten räumlich, finanziell und personell. 2016 folgte das erste Konzert für Menschen mit Demenz:  Mozarts Krönungsmesse und Schuberts Deutsche Messe. Paganetti bekam viel Unterstützung. Ihre eigene und die katholische Nachbargemeinde halfen, ebenso die Stadt, der Landkreis, die Sparkasse und der „Kultursommer Rheinland-Pfalz“. Es gab Grußworte, ein Konzertheft, Blumen am Ende.  Nach dem Applaus wollten manche die Künstlerinnen und Künstler berühren: „Auch dafür war Zeit“, sagt Paganetti.

„Gerade die großen Aufführungen reizen mich“

2019 folgte das Oratorium „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn. Die Konzerte waren ausverkauft.  Ähnlich war es 2021 mit Händels „Messias“. „Gerade die großen Aufführungen reizen mich“, sagt Sabine Paganetti, „und ich möchte diese Reihe gerne zur kulturellen Teilhabe für die dementen Menschen und ihre pflegenden Angehörigen auf diesem Niveau fortsetzen.“

Es ist nicht komplizierter als bei gewöhnlichen Konzerten

Gerade bereitet sie ihr viertes Konzert für Menschen mit Demenz vor. Bachs Weihnachtsoratorium steht für 2023 auf dem Probenplan, mit Solistinnen und Solisten, Chor und Orchester. Es müssen wieder Kontakte geknüpft, Sponsoren gefunden und viele Menschen überzeugt werden. Das bedeutet Aufwand. Doch Sabine Paganetti wiegelt ab: „Diese Vorarbeit fällt auch für ein gewöhnliches Konzert dieser Größe an, es ist nicht komplizierter.“ Berufserfahrung hilft auch, schiebt sie nach. „Aber irgendwann muss man Ideen verwirklichen, und ich kann dazu nur ermutigen.“

>> Bericht über das erste Demenzkonzert auf der Webseite des Landkreises Neuwied

Buchtipp: Kai Koch/Bernd Reuschenbach (Hrsg.): Konzerte für Menschen mit Demenz. Grundlagen, Durchführung, Erfahrungen. Mit einem Beitrag von Sabine Paganetti. Kohlhammer 2021, 157 Seiten, ISBN 978-3-17-038848-2, 34 Euro.

 

 

  • 15.9.2022
  • Wolfgang Thielmann
  • Red