Partnerschaft mit Russland: „Ich habe nicht erwartet, dass die Zustimmung zum Krieg so groß ist“

Oberkirchenrat i. R. Klaus Eberl über seine Reise ins russische Pskow, die Haltung der russischen Bevölkerung zum Krieg und die Zukunft des Heilpädagogischen Zentrums.

 

Herr Eberl, in einem Interview im März dieses Jahres haben Sie von Ihrer Sorge gesprochen, wie es nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Projekt in Pskow weitergeht. Sind Sie besorgter oder unbesorgter von dort zurückgekehrt?
Klaus Eberl:
Im Blick auf das Projekt unbesorgter, im Blick auf die politische Situation besorgter. Alle Teilbereiche unserer Partnerschaft arbeiten gut. Unsere Kooperation ist weiterhin sehr wertgeschätzt. Das ist nicht selbstverständlich. Ich habe jedoch nicht erwartet, dass die Zustimmung zum Krieg in der Ukraine in der Bevölkerung so groß ist. Meine Vorstellung war, dass die Propaganda und die Medien zwar dazu führen, dass die Menschen in Russland den Krieg als gerecht empfinden, aber dass man durch bessere Informationen andere Sichtweisen ermöglichen kann. Diese Einschätzung hat sich durch meine Reise verändert.

In welcher Hinsicht?
Eberl:
Ich glaube mittlerweile, dass die Wahrnehmung des größten Teils der russischen Bevölkerung keine unmittelbare Folge der Propaganda ist, sondern es macht den Eindruck, als würden wir uns in unterschiedlichen Galaxien bewegen. Es gibt dort ein ganz weit verbreitetes Geschichtsbild, wonach Russland immer das Opfer ist und seit Jahrhunderten von außen bedrängt wird. Und das Einzige, das aus dieser Sicht hilft, ist das Zusammenrücken aller Russen und die Gegenwehr. Dieses Bild ist so tief in den Köpfen verankert, dass es für die Propaganda leicht ist, daran anzuknüpfen und es zu verstärken.

Pskow ist auch Garnisonsstadt

Ihr Besuch fiel in die Phase der russischen Teilmobilmachung. Hat sich die Einstellung auch dadurch nicht geändert?
Eberl:
Nach meinem Eindruck nicht. Und Pskow ist Garnisonsstadt. Dort sind Fallschirmjäger stationiert und ich weiß, dass es in der Ukraine unter ihnen schon viele Tote gab. Aber das spielt keine Rolle.

Engel aus Pskow
Der Engel mit den unterschiedlich großen Flügeln ist zum Symbol der Initiative Pskow geworden. Foto: Ekkehard Rüger

Sie waren um die hundert Mal in Pskow. Welche Veränderungen nehmen Sie wahr?
Eberl:
Alle waren sehr bemüht, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Von den äußeren Strukturen verlief der Besuch genauso ab wie früher. Alle Arbeitsfelder waren in einem Topzustand und es wurde sehr wertgeschätzt, dass ich gekommen bin. Andrej Zarjow, der Direktor des Heilpädagogischen Zentrums in Pskow, hat mir nach meiner Rückkehr noch mal geschrieben, wie sehr er sich gefreut hat, dass ich in dieser für Russland so schwierigen Zeit gekommen bin, und wie mutig er das fand. Mut ist auch bei meinen Gesprächspartnern nötig. Ich gehe davon aus, dass auch die Menschen, die mich getroffen haben, erklären müssen, warum dies nötig war.

Zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit stärken

Wie verunsichert haben Sie Ihre Gesprächspartnerinnen und -partner mit Blick auf die Zukunft des Projekts erlebt?
Eberl:
Sie machen sich natürlich alle Gedanken, aber ihnen war auch klar, dass ich nicht komme, um zu sagen, dass wir nicht mehr weitermachen. Meines Erachtens muss man gerade jetzt zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit stärken. Aber sie erleben im Moment, dass sich alle zurückziehen. Joint Ventures werden beendet, Schüler- und Studierendenaustausch findet keine Fortsetzung. Alle Arbeitsfelder, die kooperativ angelegt waren, gehen kaputt.

Wo sehen Sie die größte Herausforderung für Pskow?
Eberl:
Um das Projekt mache ich mir die wenigsten Sorgen. Das läuft rund und kompetent. Wir wollten eine Alternative zum Anstaltssystem schaffen und ein Zeichen der Versöhnung setzen. Das ist im Grunde schon gelungen. Wer sich heute ein Taxi nimmt, um in den Ortsteil zu fahren, in dem das Heilpädagogische Zentrum liegt, kann als Ziel „das deutsche Zentrum“ angeben. Es ist im Bewusstsein der Menschen angekommen, dass hier mit Hilfe der deutschen Partner eine für ganz Russland wichtige Einrichtung entstanden ist. Und es ist für sie selbstverständlich, dass sie daran weiterarbeiten. Der russische Staat zahlt bereits den größten Teil der Kosten.

Wie sieht es auf der europäischen Seite aus?
Eberl:
Die Stadt hat dem Zentrum vor einem Jahr den angrenzenden Wald geschenkt. Dort ist ein sensorischer Park entstanden, der von der Europäischen Union bezuschusst werden sollte. Die Kirchengemeinde Wassenberg ist bei der Finanzierung in Vorleistung gegangen, aber es steht jetzt in den Sternen, ob die EU wirklich die 50.000 Euro zahlt, die sie zugesagt hat. Ich halte das für eher unwahrscheinlich.

Inklusion ist mehr als eine Methodik

Ist die russische Unterstützung des Projekts inzwischen nachhaltig?
Eberl:
Niemand in Russland würde sagen, wir ziehen uns aus diesem Projekt zurück. Weil man gesehen hat: Das ist die richtige Form, mit Behinderungen umzugehen. Aber es geht bei der Inklusion nicht nur um eine bestimmte Methodik, sondern auch um ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild. Es geht um Wertschätzung von Diversität. Wenn man inklusiv denkt, muss sich auch die Gesellschaft verändern in ihrem Umgang mit Vielfalt und bei der Antwort auf die Frage, was ein gutes Leben ausmacht. Der Inklusionsgedanke stellt auch die Art und Weise, wie gelebt, gearbeitet und gedacht wird, auf den Prüfstand.

Versöhnung lebt von Verständnis. Sie haben den unterschiedlichen Blick auf den Krieg in der Ukraine beschrieben. Kann das den Versöhnungsprozess auf Dauer belasten?
Eberl:
„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ Dieses Wort der Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1948 in Amsterdam ist die Basis meiner Haltung zur Versöhnungsarbeit. Es gibt für mich keinen gerechten Krieg, nur einen gerechten Frieden. Natürlich hat ein angegriffenes Land das Recht auf Selbstverteidigung, aber die Geschwindigkeit, mit der immer bessere und schwerere Rüstungsgüter in die Ukraine geliefert werden, macht mir Sorgen. Die Rüstungsspirale dreht sich immer schneller. Es fehlen Ausstiegszenarien, um den Krieg zu beenden.

Im kommenden Jahr feiert das Heilpädagogische Zentrum in Pskow 30-jähriges Bestehen. Wie blicken Sie heute auf das bevorstehende Jubiläum?
Eberl:
Man muss die Hoffnung so lange aufrechterhalten, bis sich das Gegenteil erweist. Zurzeit wäre eine Feier nicht möglich, aber was weiß ich, was im nächsten Jahr ist. Ich bin notorischer Optimist.

  • 29.9.2022
  • Ekkehard Rüger
  • Marcel Kuß