Reise nach Russland: „Gute Auslastung in der Werkstatt, aber noch nicht marktfähig“

„Ich war bestimmt hundertmal in Pskow“, sagt Klaus Eberl. „Aber diese Reise ist für mich eine besondere.“ Nach dem Angriffskrieg der Putin-Administration auf die Ukraine habe sich die Situation in Russland radikal verändert. Eberl, Oberkirchenrat i.R. und Vorsitzender der Initiative Pskow, befindet sich gerade auf einer Reise in die gleichnamige Stadt im Nordwesten Russlands. Das Heilpädagogische Zentrum (HPZ) dort ist mit der rheinischen Kirche eng verbunden. Es ist in den 1990er-Jahren aus einer Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirchengemeinde Wassenberg entstanden und mittlerweile ein Leuchtturmprojekt für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung in ganz Russland geworden. Bei seinem jetzigen Besuch geht es Eberl vor allem darum, den Partnern in Pskow deutlich zu machen: „Wir stehen zu den Verabredungen, die wir getroffen haben, und wir wollen, dass die humanitäre Arbeit weitergeht.“ In seinem Reisetagebuch wird er für ekir.de von seinen Erfahrungen und Begegnungen berichten.

 

Montag, 26. September 2022: Gute Auslastung in der Werkstatt

Heute besuche ich die Werkstatt für behinderte Menschen. Dieter Bach (90 Jahre) ehemaliger Geschäftsführer der „Initiative Pskow“ und Reimar Kirchhoff (95 Jahre), Architekt des Gebäudes, haben den Bau zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht. Sie hätten ihre helle Freude am Zustand dieser Einrichtung. Die Werkstatt wird von  Watschilav Sukmanov kompetent geleitet und von einer Gruppe Werkstattleiter aus deutschen Werkstätten für behinderte Menschen fachlich unterstützt.

Die Werkstatt für Menschen mit Behnderung wird von Watschilav Sukmanov (rechts) geleitet

Noch ist diese Form der Beschäftigung behinderter Menschen in Russland nicht etabliert. Es hat auch lange gedauert, bis ein so engagierter Direktor gefunden wurde. Textilbearbeitung, Holzwirtschaft, Gartenbau sind Schwerpunkte der Arbeit. Und natürlich die Herstellung der „Pskower Engel“. Mittlerweile hat auch die Wäscherei gute Auslastung. Aber insgesamt fehlen steuerliche Anreize, um Dienstleistungen einer Werkstatt für behinderte Menschen marktfähig zu machen. Für die „Initiative Pskow“ hatte in den letzten  Jahren der Erweiterungsbau einer Tagespflege Priorität. Der Rohbau ist inzwischen fertig und es ist mit dem Bezug der Räume im Frühjahr oder spätestens im Sommer zu rechnen.

In der Werkstatt wird auch der „Pskower Engel“ gefertigt.

Zurück im Hotel gehen mir tausend Fragen durch den Kopf. Wie kann es sein, dass wir in Deutschland und Russland von so unterschiedlichen Wirklichkeiten der politischen Konflikte ausgehen? Das macht mich ziemlich ratlos. Ein letztes gemeinsames Abendessen. Große und kleine Erinnerungen der gemeinsamen Arbeit werden ausgetauscht. Unsere Partnerschaft ist stark und hält auch unterschiedliche Sichtweisen aus. Jetzt wird gepackt für die Heimreise.  500 Engel im Koffer reisen mit mir.

Sonntag, 25. September 2022: Betreutes Wohnen wird immer wichtiger

Yuri Kuznezow arbeitet bei einem privaten Fernsehsender und ist ein in Russland bekannter YouTuber und Lobbyist der Inklusion. Als Kind mit einer Körperbehinderung hat er erlebt, was es heißt, in eine Anstalt (russisch: Internat) abgeschoben zu werden und sich dem täglichen Kampf zu stellen, am Leben zu bleiben. Mit einer Behinderung würdig leben – darum geht es. Yuri interviewt mich für seinen TV-Kanal. Er fragt nach dem Ursprung unserer Arbeit in Pskow, nach der theologischen Motivation und der Bedeutung des Pskower Engels. Ein Engel mit einem großen und einem kleinen Flügel. Ein Engel mit einer Behinderung. Ich erkläre, dass Ergänzungs- und Hilfsbedürftigkeit zu den Konstanten meines Menschenbilds gehören. Menschen seien eben keine zweibeinigen Götter, sondern jede und jeder müsse mit den eigenen Grenzen leben lernen.

Selfie: Klaus Eberl mit dem russischen YouTuber Yuri Kuznezow.
Klaus Eberl wurde von dem russischen Inklusions-Aktivisten Yuri Kuznezow (links) für seinen TV-Kanal interviewt.

Betreutes Wohnen ist eine Chance für assistierte Freiheit. Dieses Arbeitsfeld gewinnt für die „Initiative Pskow“ immer größere Bedeutung. Ich öffne vorsichtig die Tür zu einer Wohngemeinschaft in der Stadt. Die sechs Bewohner und Bewohnerinnen sind vor ihrem Einzug in die WG in einer Trainingswohnung fit gemacht worden für die alltäglichen Aufgaben in einer WG. Lena empfängt mich. Sie leitet dieses Arbeitsfeld von Anfang an. Als Nastja mich sieht, ruft sie laut und langgezogen meinen Namen: „Klaaaaus“. So begrüßt sie mich schon seit Jahren und ist mächtig stolz, dass sie nicht vergessen hat, wie ich heiße. Es sind nur drei Bewohner zu Hause. Die anderen besuchen am Wochenende ihre Eltern.

Klaus Eberl besucht in Pskow eine WG von Menschen mit Behinderung.

Zurück im Hotel gibt es endlich Gelegenheit, über den Krieg zu sprechen. Ich habe mir vorgenommen, offensiver zu fragen. Und ich bekomme Antworten von Freunden und Weggefährten, aber auch von Unbekannten, die sich gerade im Hotel befinden. Es dauert nicht lange bis die Differenzen in der Beurteilung der Fakten deutlich werden. Inhaftierung von Gegnern des Krieges? Gründe für die Militäraktion? Bewertung der Waffenlieferungen an die Ukraine? Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen? Ich muss an die alte Erkenntnis denken, dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist. Aber was ist die Wahrheit in diesem Konflikt? Zumindest in einem Punkt muss ich mich korrigieren. Ich hatte nicht geglaubt, dass etwa 80 Prozent die offizielle Politik in Russland gutheißen und 20 Prozent ebenso vehement dagegen sind. Wenn ich meine Gespräche auswerte, komme ich jedoch zu genau diesem Ergebnis. Und zwar bei Menschen, die sich via Internet alle Informationen beschaffen können.

Am Abend fahre ich mit Andrej zum Pskower See. Er hat etwa 20 Kilometer von der Stadt entfernt eine Datscha gekauft und gerade die zugehörige Banja, eine Art Sauna, fertiggestellt. Ich werde mit Köstlichkeiten aus dem Garten und Baltika-Bier verwöhnt. Zwischendurch schwitzen wir vor uns hin und und schlagen uns gegenseitig mit Birkenzweigen, um die Wirkung der Hitze zu erhöhen.

Samstag, 24. September 2022: Große Veränderungen in der Schule

Schon seit ein paar Jahren ist das Heilpädagogische Zentrum mehr als die ursprüngliche Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. Zunächst kam das Frühförderzentrum „Limpopo“ hinzu, kräftig unterstützt durch die Rurtal-Schule Heinsberg und den Kirchenkreis Lennep. Swetlana Nasarkina berichtet ausführlich über die Arbeit des Zentrums. Bei den therapeutischen Maßnahmen sind die Eltern immer dabei. Das Zusammenwirken von Eltern und einem multiprofessionellen Team ist entscheidend für den Erfolg der Förderung.

Die Kindergärten erinnern mich daran, dass das ganze System aufeinander abgestimmt werden muss. Denn die Kinder der Vorschulgruppen können nur dann in die Förderschule aufgenommen werden, wenn es genug Entlassschüler gibt, die in die Werkstatt aufgenommen werden. Eigentlich wäre es jetzt gut, wenn es zu einem Mitarbeiter-Tausch mit Wassenberger Erzieherinnen kommen würde. Das Interesse ist groß. Aber die Grenzen sind zurzeit dicht.

Die größten Veränderungen gibt es in der Schule. Sie ist mit dem Siegel „Gute Schule“ ausgezeichnet worden. Die Auszeichnung war verbunden mit einem kräftigen Zuschuss aus Moskau zur Ausstattung. Dadurch ist nicht nur die Aufnahmekapazität der Schule vergrößert worden, sondern auch das gesamte Inventar rollstuhlgerecht verändert worden. „Universal Design“ spielt auch in der Parkanlage des angrenzenden Waldes eine Rolle. Das Grundstück gehört ebenfalls zur Schule. Seinerzeit wurde die Ausgestaltung mit einem Zuschuss der EU unterstützt. Die Wassenberger Kirchengemeinde hat die Maßnahme vorfinanziert. Angesichts der angespannten politischen Situation ist noch offen, ob die zugesagten Mittel tatsächlich fließen. Fallen die EU-Mittel aus, wäre das für den Pskow-Haushalt der Kirchengemeinde ein herber Rückschlag.

Abends ein fröhliches Essen mit Mitarbeiterinnen des Außenamtes der Stadt. Erinnerungen werden ausgetauscht. Ein wenig Abenteuer war immer dabei. Im nächsten Jahr können wir das 30. Jubiläum feiern. Jahrzehnte voller Geschichten, die den Wert zivilgesellschaftlicher Kontakte zeigen. Versöhnung braucht einen langen Atem. Ein Wort wird nie ausgesprochen. Das Wort Krieg. Es ist fast wie in den Harry-Potter-Romanen. Der, dessen Name nicht genannt werden darf.

 

Freitag, 23. September 2022: Angekommen in Pskow

Die meisten Verbindungen nach Russland sind unterbrochen. Weder mit dem Flugzeug noch mit der Bahn komme ich nach Pskow. Deshalb abends zunächst nach Riga/Lettland mit Airbaltic. In stockfinsterer Nacht ist das Hotel kaum zu finden. Da erfahre ich, dass Swetlana, die großartige ehemalige stellvertretende Direktorin des HPZ, mich nicht abholen kann. Ihr Dauervisum wird nach den Beschlüssen der baltischen Staaten am vergangenen Montag nicht mehr anerkannt. Zum Glück hat Tatjana, Mitarbeiterin der Pskower Stadtverwaltung, einen Freund in Riga. Der fährt mich zur Grenze. Die estnischen Grenzer fragen erstaunt, warum man als Deutscher freiwillig nach Russland reist. Ich zeige meinen Ehrenbürger-Ausweis. Die Grenzer sind sichtlich beeindruckt. Ein freundlicher Porschefahrer hilft mir, das Niemandsland zu überwinden. Zu Fuß würde ich das mit Gepäck kaum schaffen. Am russischen Grenzübergang dauert es dann zwei Stunden, um zehn Autos abzufertigen.

Swetlana wartet schon auf der russischen Seite. Noch eine Stunde Fahrt bis Pskow. Ich muss daran denken, dass wir vor fast zwanzig Jahren mit einer Fahrradgruppe von Wassenberg nach Pskow gefahren sind. 2700 Kilometer; damals waren die Straßen in der Stadt für uns mit Fähnchen als Willkommensgruß geschmückt. Solche Ehre ist diesmal nicht zu erwarten. Aber vor dem Hotel erwarten mich Andrej, der Direktor des Heilpädagogischen Zentrums, Dreh- und Angelpunkt der Behindertenhilfe in Russland, sowie Oxana, die Schulleiterin.

Eine Stunde später treffe ich Vera, die stellvertretende Gouverneurin des Oblast Pskow in der Werkstatt für behinderte Menschen. Sie hat die neue Sozialministerin mitgebracht. Wir versichern einander, dass auch in diesen turbulenten Zeiten die erfolgreiche humanitäre Zusammenarbeit weitergehen muss. Das Wort Krieg wird nicht ausgesprochen. Man spricht vom 24. Februar. Die Politikerin kennt unser Engagement von Anfang an und unterstützt die Versöhnungsarbeit nach Kräften. Am Ende des Besuchs bestaunen wir den fertiggestellten Rohbau eines neuen Traktes für die Tagespflege. Ab Frühjahr 2023 sollen dort Erwachsene mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen betreut und in ihren Alltagskompetenzen gefördert werden. Das ist zur Zeit ein Schwerpunkt der „Initiative Pskow“.

 

Donnerstag, 22. September 2022: Es geht los nach Riga

„Du bist verrückt!“, sagten Freunde, als ich ihnen eröffnete, dass ich nach Russland reise – zum Heilpädagogischen Zentrum und zur Werkstatt in Pskow. „Gerade jetzt, wo Russland Krieg führt in der Ukraine!“ Ich bin gewiss hundertmal in Pskow gewesen, um mit unseren Partnern dort an der Verbesserung der Lebenssituation behinderter Menschen zu arbeiten. Aber diese Reise ist anders als alle bisherigen. Eine Reise mitten in einer Zeit, die von großen Unsicherheiten geprägt ist.

1991, 50 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, entstand in der rheinischen Kirche die Idee, als Zeichen der Versöhnung eine Einrichtung zur Förderung von Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen zu schaffen. Zunächst entstand eine Schule, später ein Frühförderzentrum, Kindergärten, eine Werkstatt und kleine Wohngemeinschaften in der Stadt. Mittlerweile sind die Pskower Einrichtungen für behinderte Menschen die Referenz für ganz Russland. Etwa 700 „Kunden“ erhalten Beratung, Förderung, Betreuung und Bildung.

Klaus Eberl bei einem Besuch in Pskow im Jahr 2018.

Die Erfahrungen, die die „Initiative Pskow“ und die Evangelische Kirchengemeinde Wassenberg als Gründerinnen des Projektes mit den russischen Partnern gemacht haben, stehen in krassem Gegensatz zu den Bildern und Nachrichten, die die russische Armee bei ihrem Angriffskrieg hinterlässt. Bin ich verrückt? Ich habe eine andere Seite Russlands kennengelernt: die großartige Kultur, grenzenlose Gastfreundschaft, eine geheimnisvolle Melancholie der Landschaft. Vor allem aber: wunderbare Menschen, die sich unter schwierigsten Rahmenbedingungen selbstlos für andere einsetzen. Viele russische Projektpartner sind im Laufe der Jahre Freunde geworden. Sie brauchen in unsicheren Zeiten das Signal: Wir ziehen uns nicht zurück! Wir stehen zu unserem Versprechen, euch zu unterstützen! Neben allen praktischen Fragen, die zu verhandeln sind, ist das der Grund der Reise.

Jeden Tag werde ich berichten. Schon vor der Anreise gibt es erste Probleme. Sowohl die EU als auch Russland verschärfen in dieser Woche die Visaregelungen. Die Nachrichten melden eine Teilmobilmachung in Russland. Ich fliege heute Abend nach Riga/Lettland. Dann irgendwie über die Grenze. Also improvisieren. Ich bin gespannt.

  • 21.9.2022
  • Klaus Eberl, Red.
  • Klaus Eberl