DREI FRAGEN AN… Wolfgang Hüllstrung, den landeskirchlichen Beauftragten für den christlich-jüdischen Dialog, zum Israelsonntag am 4. August 2024 und zur politischen Gemengelage, in der er gefeiert wird.
Herr Hüllstrung, der Israelsonntag am 4. August findet in der aufgeheizten weltpolitischen Lage des Israel-Gaza-Kriegs statt. Mit welchen Auswirkungen auf die Wahrnehmung Israels aus Ihrer Sicht?
Wolfgang Hüllstrung: Beim Israelsonntag geht es laut Perikopenbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland „nicht um Probleme, sondern um die Feier. Es gilt, Gott zu loben für die Erwählung seines Volkes und für seine Treue, die allen Völkern Zukunft in Gottes Bundeshandeln eröffnet.“ Die Rede von der „Treue Gottes zu Israel“ bildet die Grundlage vieler Israel-Verhältnisbestimmungen. Die Verbindung mit der Gründung des Staates Israel, wie sie im rheinischen Synodalbeschluss von 1980 vorkommt, ist eine dieser Varianten. Sie ist untrennbar verknüpft mit dem Dank für die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes trotz aller Vertreibungen, Verfolgungen und teilweisen Vernichtungen. Und sie bezieht sich vor allem auf zwei Funktionen, die der Staat Israel erfüllen soll: einerseits Schutz und Heimstatt zu bieten, andererseits dem jüdischen Volk Raum für die Verwirklichung von Gerechtigkeit und die Erfüllung der Weisung Gottes zu geben. Vor diesem Hintergrund nimmt die rheinische Kirche mit Sorge und Kritik wahr, dass die israelische Regierungspolitik zunehmend von rechtsextremistischen und nationalistischen Ideen und Strategien bestimmt ist. Die Art und Weise, wie der Krieg militärstrategisch geführt wird, die öffentliche Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Strategie, im Schatten des Kriegs die Annexion der Westbank voranzutreiben, und der Umbau des israelischen Rechtsstaats hängen unmittelbar mit der Ausrichtung der Regierungspolitik zusammen. In der Erklärung der Landessynode vom vergangenen Januar heißt es: „Ein Leben in Sicherheit, Gerechtigkeit und dauerhaftem Frieden für alle Menschen in der Region kann nicht durch militärische Gewalt erreicht werden.“ Die rheinische Kirche tritt für die Wahrung des Völkerrechts ein und „begrüßt, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit anderen Partnern weiter für die Perspektive einer zwischen beiden Seiten verhandelten ‚Zwei-Staaten-Lösung‘ einsetzt“.
Der internationale Antisemitismus nimmt lange nicht gekannte Ausmaße an. Was bedeutet das für den christlich-jüdischen Dialog?
Hüllstrung: Die Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die die Auswirkungen der aufgeheizten weltpolitischen Lage des Israel-Gaza-Kriegs am unmittelbarsten zu spüren bekommt, sind die Juden und Jüdinnen. In pauschalisierend-diskriminierender Weise werden sie für die Politik und Militärstrategie der israelischen Regierung verantwortlich gemacht, obwohl sie die israelische Regierung gar nicht gewählt haben und sich häufig auch wenig für die Details israelischer Innenpolitik interessieren. Die Statistiken zeigen: Der Gaza-Krieg ist begleitet von einem vehementen Anstieg antisemitischer Taten in Deutschland. Und so fragen sich seit dem 7. Oktober die Verantwortlichen in den jüdischen Landesverbänden und Gemeindevorständen: Was hat das Bemühen um Begegnung und Beteiligung am Dialog während der vergangenen Jahrzehnte gebracht, wenn Anfeindungen und Boykottierungen in der Bevölkerung sofort wieder spürbar hervorbrechen, sobald sich der Nahostkonflikt verschärft? In der jüdischen Community hat sich eine Stimmung der Einsamkeit und des Alleingelassenseins ausgebreitet – trotz aller öffentlicher Bekundungen. Solange die Geiseln nicht befreit sind und der Krieg nicht beendet ist, gibt es in der jüdischen Community weder Motivation noch Energie für ein unmittelbares Fortsetzen der bisherigen Gesprächskontakte. Immer wieder wird betont: „Es kann nicht einfach ein ‚Weiter so‘ geben.“ Dennoch hat die Landessynode den Willen und das Bemühen bekräftigt, Gespräche mit den jüdischen Gemeinden und Landesverbänden zu intensivieren.
Wie positioniert sich die rheinische Kirche in dieser Gemengelage?
Hüllstrung: Die Haltung ist bestimmt von Empathie mit den Menschen in Israel und Palästina. Im Hinblick auf die politische Situation in Israel und Palästina enthält sich die rheinische Kirche einseitiger Parteinahme und Schuldzuweisungen, und zwar nicht aus Hilflosigkeit oder Resignation, sondern weil sie sowohl die Lebenssituation der Israelis als auch die der Palästinenser wahrnimmt und auch die Vielfalt und Spannungen innerhalb der israelischen Gesellschaft wie auch die unterschiedlichen Lebenswelten des palästinensischen Volks. Die pauschalisierende Rede von den Israelis und den Palästinensern geht an der Realität vorbei. Hinter der Solidarität und Unterstützung von Palästinensern darf sich nicht der Wille verstecken, den Staat Israel und dessen Bevölkerung auszulöschen. Und umgekehrt: Hinter der Solidarität mit Israelis darf sich nicht der Wille verstecken, dem palästinensischen Volk das Recht auf einen eigenen Staat oder zumindest auf eine angemessene Form von politischer Autonomie und Zugang zu gleichen Rechten und Sicherheit zu verweigern.