Altenpflege: Die Nerven liegen blank

„Unsere Leute sind wütend, sauer, verzweifelt, erschöpft. Die Nerven liegen blank“, sagt Petra Weihsenbilder. Sie ist Leiterin zweier Altenheime der Bergischen Diakonie Aprath in Wülfrath. Und „unsere Leute“ sind die Mitarbeitenden in der Pflege. Deren Situation ist so miserabel, dass die große diakonische Einrichtung die Lage in einem Pressegespräch öffentlich macht.

Mehr als zwei Jahre Corona-Pandemie haben in den Altenhilfeeinrichtungen – nicht nur – der Bergischen Diakonie ihre Spuren hinterlassen: „Wir haben unter anderem Rückenbeschwerden und Probleme mit der Psyche – das ist durch die Pandemie mehr geworden“, stellt Sylvia Broekmann, Bereichsleiterin des Altenhilfeverbundes der Bergischen Diakonie fest. Neues Personal ist so gut wie nicht zu bekommen. Die vorhandenen Kräfte sind durch die Unterbesetzung, die durch die Corona-Pandemie verschärft wurde, inzwischen weit über die Belastungsgrenze hinaus beansprucht. Früher kam eine Pflegekraft auf zehn Bewohnerinnen und Bewohner. Heute liegt der Schlüssel bei 1:15. Nicht selten arbeiten die Mitarbeitenden zehn, elf, zwölf Tage am Stück. Sie werden aus dem Frei oder dem Urlaub geholt, um die Pflege der anvertrauten Menschen sicherstellen zu können. An Spitzentagen fallen in der Altenpflege der Bergischen Diakonie 30 Prozent des Personals aus.

„Wir können aber nicht schließen“

Fluggesellschaften könnten bei Personalmangel Flüge streichen. Die Bahn lasse Züge ausfallen. Produktionsbetriebe drosselten den Output oder legten einzelne Teile still. „Wir können aber nicht schließen und die Leute vor die Tür setzen“, sagt Bereichsleiterin Broekmann. Weihsenbilder, Leiterin des Otto-Ohl-Hauses und von Haus Karl Heinersdorff auf dem Gelände der Bergischen Diakonie, würde gerne plakativ sichtbar machen, wie schlecht es um die Pflege bestellt ist: „Aber ich kann ja nicht die Menschen in ihren Betten hier auf die Straße vor dem Haus schieben, damit man sieht, wie schlimm unsere Lage ist.“

„Wir brauchen mehr Köpfe und mehr Hände“

Gerhard Schönberg ist seit vielen Jahren kaufmännischer Vorstand der diakonischen Einrichtung zwischen dem niederbergischen Wülfrath und Wuppertal. Aber auch er weiß keinen Rat: „Wir können alleine nicht mehr weiter. Corona-Prämien sind für die Mitarbeitenden schön. Aber wir brauchen mehr Köpfe und mehr Hände und nicht noch mehr Arbeit für die vorhandenen Leute“, macht er klar. Der Fachkräftemangel sei nicht nur ein Problem in der Altenpflege. Deswegen müsse in einer konzertierten Aktion Arbeit in Deutschland so attraktiv gemacht werden, „dass Leute zu uns kommen, um hier zu arbeiten“. Da jedenfalls sieht er einen dringenden Auftrag an die Politik. „Als einzelne Einrichtungen können wir nichts machen.“

Keine Zeit für Resilienz-Kurse

Gibt es nichts, womit die Bergische Diakonie Aprath selbst den hochbelasteten Pflegekräften helfen kann? „Wir machen Programme zur Gesunderhaltung der Mitarbeitenden. Wir haben schon den Currywurst- und den Eiswagen hier gehabt“, sagt Broekmann. Wenn die Kräfte erschöpft seien, nutze das aber alles nichts mehr. Resilienz, das bedeutet psychische Widerstandskraft, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Ein entsprechender Kurs, mit dem diese Kräfte der Pflegenden gestärkt werden sollten, ist auf Eis gelegt worden, denn: „Wer hat denn von denen aktuell überhaupt Zeit, daran teilzunehmen?!“

Betten bleiben wegen des Personalmangels unbelegt

Zwölf Altenhilfeeinrichtungen hat die Bergische Diakonie Aprath insgesamt in Wülfrath, Monheim, Remscheid, Heiligenhaus und Wuppertal. Rund 850 Plätze sind das. 14 Prozent von ihnen sind aktuell unbelegt – und das obwohl viele Menschen dringend einen Pflegeplatz suchen. Ein Dilemma, da sind sich Einrichtungsleitung und kaufmännischer Vorstand einig. Aber die Altenheime könnten aufgrund der derzeitigen Personallage eine gute Pflege bei vollständiger Belegung einfach nicht sicherstellen. Es wäre eine Entlastung, wenn bürokratischer Aufwand abgebaut würde, sagt Schönberg. Weniger bürokratische Hürden wünscht er sich auch bei der Anstellung von Personal aus dem Ausland. Zudem müsste es Sprachschulen für ausländische Kräfte geben. Ja, arbeitsplatzbezogene Einwanderung müsse erleichtert werden, greift er die Nachfrage eines der anwesenden Lokaljournalisten auf. Aber wie das am Ende gehen soll, weiß auch der Herr der Zahlen nicht: „Es fehlt der große Wurf. Es fehlt der große Ansatz.“

Mehr über die Bergische Diakonie Aprath

  • 27.7.2022
  • Jens Peter Iven
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